Zweisprachiges Lesen
Um in der Übergangs- bzw. Originallektüre nicht nur Einblick in größere inhaltliche Zusammenhänge zu erhalten, sondern sich auch in die Darstellungsweise des Autors einzulesen, ist es eigentlich unumgänglich, längere Textstellen in Übersetzung oder eben sogar zweisprachig zu lesen. Ich setze das zugegebenermaßen zu wenig um, sondern beschränke mich meist darauf, den ausgewählten Text mit den bekannten Methoden inhaltlich und sprachlich vorzuentlasten, was aber einer ausführlicheren Beschäftigung und Gewöhnung nicht gleichkommt.
Eine sehr schöne Textausgabe für die Übergangslektüre gibt es von Tobias Beißner zu Plautus’ Mostellaria (pdf-Download), dort ist die Komödie gekürzt, aber zusammenhängend auf Deutsch nacherzählt, zentrale Szenen werden in stark vereinfachtem Latein geboten. Der Spannungsbogen bleibt so erhalten, ein inhaltlicher Eindruck vom Gesamtwerk wird vermittelt. Mit der Sprache des Originals kommen die LeserInnen in den nacherzählten Abschnitten dagegen nicht in Kontakt.
In seiner an Erwachsene gerichteten Neuerscheinung von 2023 „Latein für Jeden“ plädiert Rodrigo Kahl dafür, es Heinrich Schliemann gleichzutun und zweisprachig zu lesen.
Das Vorgehen ist also ganz einfach: [1.] Sie lesen den deutschen Satz. [2.] Sie gehen vom einzelnen deutschen Wort aus und suchen das entsprechende lateinische Wort. Nehmen Sie bitte die Wörter immer genau in der Reihenfolge vor, wie sie im deutschen Satz stehen. […] [3.]Sie lesen den lateinischen Satz, den Sie jetzt verstehen. Sie lesen gekonnt und ausdrucksvoll.[…] (Kahl, S.47f.)
Der Theologe Kahl erkennt an, dass sein Ziel, nämlich Latein zu verstehen und lateinisch zu denken, sich vom Ziel des Schulunterrichts bzw. der klassischen Philologie unterscheidet, eine gute Übersetzung zu produzieren. Man muss aber nicht die Fachdidaktik und Methodik des Lateinunterrichts ablehnen, um dem zweisprachigen Lesen eine Chance zu geben: Im Sinne der Reduktion und Methodenvielfalt kann es ruhig Phasen geben, in denen nur das Verstehen bzw. Dekodieren geübt wird; das Rekodieren kann in anderen Phasen weiterhin geübt werden.
Entscheidender sind für mich Probleme praktischer Natur: Für die Schule eignet sich das freie Selbststudium, wie Kahl es beschreibt, m.E. nicht, wenngleich er es auch SchülerInnen zur Ergänzung der unterrichtlichen Arbeit empfiehlt (Kahl, S.146). Für den Unterricht selbst muss aber vorstrukturiert und operationalisiert werden, damit in überschaubarem Zeitrahmen Ergebnisse sichtbar werden. Individuelles lautes Lesen ist in der Schule kaum möglich; zu Hause dagegen wohl. Den von ihm empfohlenen Übungsumfang von einer Stunde täglich (Kahl, S.27) werden wir ohnehin nicht anstreben, weil wir seine Methode nicht ausschließlich anwenden.
Konkret laufen diese Überlegungen auf die Frage hinaus, welche Aufgaben zu einem zweisprachig gegebenen Text sinnvoll sind. Natürlich können sie sehr gezielt gestellt werden (und das wird ja auch gemacht): inhaltliche Aspekte mit lateinischen Textbelegen herausarbeiten, Wortfelder zusammenstellen, grammatikalische Phänomene erkennen, alles unterstützt von der beigegebenen Übersetzung. Um aber einen Kompromiss zu erreichen zwischen Fokus auf die Aufgabe, Produzieren einer Antwort, Rechenschaft einerseits und Fokus auf den Text, Lesefluss, Selbstständigkeit andererseits, habe ich eine Übungsform gesucht, die zum zweisprachigen synoptischen Lesen anleitet, aber den Text selbst dabei im Mittelpunkt lässt.
Es erscheint naheliegend, das von Kahl beschriebene „einfache Vorgehen“ (s.o.) digital so umzusetzen, dass die Texte nebeneinander angezeigt werden und der/die Übende nacheinander auf einen Ausdruck im deutschen Text und seine Entsprechung im Originaltext klickt.
Erstaunlicherweise hatte ich schon letzten Sommer kein Tool im Internet gefunden, das diese Übungsform ermöglicht. Leider verfüge ich auch über keine ernstzunehmenden Programmierkenntnisse, so dass ich dankbar sein muss, auf KI zurückgreifen zu können, um sie mit Javascript umzusetzen. Das derzeitige (beispielhafte) Ergebnis steht hier unter arxlupi.de/zweisprachige. Meine Fragen an die KI Perplexity sind hier abzurufen.
Die Funktionsweise ist so, dass in einer Javascript-Datei der deutsche Text, der Originaltext und die Entsprechungen (z.B. „und um sie zu retten,“: „salvandaeque eius gratia“) aufgeführt sind (es ist also leicht möglich, durch Aufruf dieser Datei zu schummeln). Eine weitere Javascript-Datei beinhaltet die hauptsächlich von Perplexity erstellte Funktionsweise mit den Blöcken, Einfärben, Feedback, ein CSS sorgt für das Aussehen und in der index.html können Javascript-Dateien für weitere Texte verlinkt werden. Die Sache hatte und hat einige technische Fallstricke, die zu beheben mir klar die Kenntnisse fehlen. Zum Beispiel müssen alle Wörter in beiden Texten verwendet werden, es können nur nebeneinander stehende Wörter gruppiert werden (problematisch bei Prädikatstrennung im Deutschen!) und es darf kein Wort oder Wortgruppe mehrfach vorkommen.
An den/die geneigte/n Leser/in nun zwei Fragen: 1) Macht die Übungsform als solche Sinn? Genauer: Stellt sie den oben beschriebenen angestrebten Kompromiss dar und war es richtig, diesen anzustreben? Oder gibt es Arbeitsaufträge, die zielführender und/oder einfacher sind, zweisprachiges Lesen zu unterstützen? 2) Wenn die Übungsform als solche Sinn macht: gibt es Tools, die diese (annähernd) umsetzen? Oder Möglichkeiten, die technische Umsetzung zu verbessern? Ich bin für jede Idee dankbar!